Der langanhaltende Ausnahmezustand beansprucht unsere Geduld, unsere Nerven und unsere Emotionen. Mehr und mehr fällt mir auf, dass eine einfache Bemerkung über die pandemiebedingte Situation zu einer förmlichen Explosion beim Gegenüber führen kann.
Die Menschen scheinen mehr und mehr gespalten in ihren Ansichten, Wünschen und Ängsten. Es ist nicht leicht, weich zu bleiben, wenn wir mit harten Worten konfrontiert werden. Es ist nicht selbstverständlich, weit in Geist und Herz zu bleiben, wenn doch die Lage eine wirklich enge ist.
Hier möchte ich vier Impulse geben, wie wir immer wieder ruhigeren Boden in einer aufgeheizten Stimmung finden können.
1.) Nachfragen statt Reagieren
Ein Statement oder ein bestimmtes Verhalten einer Person hat immer einen Grund. Anstatt die Aussage über einen Sachverhalt direkt zu kommentieren, wäre eine Möglichkeit, nach den Wurzeln dieser Aussage zu forschen.
Welche Emotion liegt dahinter? Geht es um eine Angst? Angst vor einer Erkrankung durch das Virus, Angst vor finanzieller Notlage, Angst vor zunehmender Unfreiheit? Die Ängste sind vielfältig und sie sind für jede und jeden von uns so unglaublich unterschiedlich. Und natürlich berechtigt.
Oder schwingt da Trotz / Wut / Einsamkeit in dem, was der andere sagt? Nachfragen hilft, die Wurzeln aufzudecken.
2.) Nachfühlen um zu verstehen
Welches Bedürfnis liegt hinter einem emotionalen Ausbruch? Vielleicht hast du im Moment gar nicht die Gelegenheit, die Gesprächspartnerin danach zu fragen, aber es ändert dein Erleben einer Diskussion auch noch, wenn du dich nachträglich fragst „was liegt dahinter?“. Nicht um darüber nachzudenken. Unser Verstand bleibt da meist in unserer eigenen Vorstellungswelt hängen. Aber um deinen Empathie-Muskel zu üben. Um dich einzufühlen in die Situation der anderen Person.
Was könnte das Bedürfnis sein, das der Antrieb für Verhalten oder der Boden einer festgefahrenen Meinung ist? Das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Freiheit, nach Unabhängigkeit, nach Zugehörigkeit, nach Anerkennung, schlicht und einfach nach einem gefüllten Kühlschrank oder einem ruhigen Schlaf?
Wenn es mir gelingt, durch das Mit- und Nachfühlen in Kontakt mit diesen ur-menschlichen Regungen zu kommen und zu verstehen, wird’s mir gleich weicher um’s Herz und ich kann dem oder der Anderen seinen/ihren Platz im pandemischen Schlamassel zugestehen.
3.) Aus dem eigenen (Er-)Leben sprechen
Meine Erfahrung ist, dass es zur Zeit wenig bringt, sich gegenseitig mit „schlauen“ Argumenten zu beliefern. Egal, ob es um Maskenpflicht, um Testpflicht, um Impfpflicht, um Öffnung oder um Schließung geht, die Vor- und Nachteile spielen sich gegenseitig aus und lassen uns eher ratlos dastehen. Was hilft, damit wir nicht immer wieder in der gedanklichen Sackgasse landen und uns dort betreten anschweigen (oder in den Haaren liegen)?
Der zwischenmenschliche Raum wird wärmer, wenn wir im Gespräch unsere persönlichen Wahrnehmungen sowie auch unserer eigenen Gefühle und Bedürfnisse beschreiben. Wenn wir also in Kontakt mit unserem leiblichen Erleben sind und dem Worte geben. Komplexitätsforscher beißen sich an der momentanen Weltsituation ihre wissenschaftlichen Zähne aus. Im Hier und Jetzt schafft es mehr zwischenmenschliche Nähe, sich über unsere individuellen Wirklichkeiten auszutauschen als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wer recht und wer nicht recht hat.
4.) Einen Schritt zurück machen
Was mir immer wieder hilft, aus gedanklicher oder gefühlsmäßiger Enge herauszukommen, ist der Schritt aus dem Strudel heraus um einen besseren Blick auf die gegenwärtige Lage zu bekommen. Wenn ich in der Vorstellung einen oder mehrere Schritte zurück mache, stehe ich nicht mit der Nase an der Wand, sondern bekomme eine weitere Sicht auf die Dinge. Ich bekomme etwas mehr Distanz, was meist gut tut. Und einen weiteren Blickwinkel, der dann mehr als meine unmittelbare Situation einschließt. Dieser Ort ist gut um innezuhalten, um mal durchzuatmen, um trotz allem dankbar zu sein und um den Humor immer wiederzufinden, der meiner Meinung nach ein Wunderheiler ist, wenn wir ihn mit einer Prise „liebevoll“ auch mit unseren Mitmenschen teilen.
Viel Glück und Shalom!